Ein Heimchen am Herde
Bekannt wurde die Redewendung "Ein Heimchen am Herde" durch das von dem englischen Schriftsteller Charles Dickens (1812-1870) veröffentlichte Werk "The Cricket on the Hearth" (dt. Ein Heimchen am Herde). Diese Novelle ist eine von fünf Erzählungen, die Dickens in den Jahren 1843 bis 1847 veröffentlichte. Es ist der dritte Band dieser Reihe, gegliedert durch drei "Chirps" (dt., Zirpen). Dickens soll die Erzählung zwischen dem 17. Oktober und dem 1. Dezember 1845 geschrieben haben, danach wurde sie ebenso wie die übrigen Bände der fünfbändigen Reihe im Erscheinungsjahr für das Weihnachtsgeschäft veröffentlicht.
"Da plötzlich glimmte das erlöschende Feuer auf, erhellte den ganzen Kamin mit einem Lichtschein, und das Heimchen am Herde begann zu zirpen! - Kein Ton, den er hätte hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die ihre, würde ihn so bewegt, erschüttert und beruhigt haben. Die kunstlosen Worte, mit denen sie ihm von ihrer Liebe zu diesem Heimchen gesprochen hatte, hört er noch ganz frisch in den Ohren; er sah sie wieder vor sich mit ihrem ernsten Wesen, ihrer lieblichen Stimme - o welch eine Stimme es war, so ganz dazu angetan, mit ihrer traulichen Musik einen ehrlichen Mann am häuslichen Herde zu erfreuen! - Das alles durchbebte bis ins Innerste seine bessere Natur und wurde zu Leben und Bewegung. - Er wich von der Tür zurück wie ein Schlafwandler, der aus einem schrecklichen Traum aufwacht. Er stellte das Gewehr weg; dann bedeckte er das Gesicht mit den Händen, setzte sich wieder ans Feuer und erleichterte sein Gemüt in Tränen. - Das Heimchen am Herde kam hinein ins Zimmer und stand in Feengestalt vor ihm." (Auszug, 3. Zirpen)
Während Dickens in seiner Weihnachtserzählung die Grille (dt. auch Heimchen) eher als Glück bringenden Hausgeist poetisch verklärt, galt das Zirpen der Grille im Volksglauben oft als Unglücksbote: "Das Heimchen zirpte kläglich, das lange nicht gezirpt. Gelt, sagten alle Bauern, gelt, unser Pfarrer stirbt." - "Ein melancholisch Heimchen zirpt vor ihrer Kammertür; das Leichhuhn schreit ach Gott! Sie stirbt, des Dorfes beste Zier!" (Heimchen, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung 1854-1960)
Heute wird die Redewendung "Ein Heimchen am Herde" zumeist abwertend verwendet für Frauen, deren Lebensinhalt die Familie, die Wohnung und eben der heimische Herd ist. Die sich gewissermaßen im Haus verborgen halten und singen, oder besser zirpen, wie eine Grille. Und das nicht immer freiwillig. Bis 1962 bekam die Frau kein Bankkonto, ohne Zustimmung des Ehemanns. Bis 1977 waren Frauen gesetzlich "zur Führung des Haushaltes" verpflichtet. Der Ehemann bestimmte, ob seine Frau arbeiten gehen durfte. Die rechtliche Verankerung der Gleichberechtigung und deren praktische Umsetzung klafften ungemein weit auseinander.
Schnee von vorgestern? In den Scheingefechten der Berufspolitiker und Parteien um die Wählerstimmen für die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 wurde die Redensart "Ein Heimchen am Herde" medial bundesweit in das öffentliche Gedächtnis gerufen, überschrieben mit der griffigen Formel "Betreuungsgeld als Herdprämie". Das Fazit zum Thema von Robin Alexander in WELT ONLINE (11.11.2012) war: "Hausfrauen als 'Heimchen am Herd'? Der Bundestag hat mit schwarz-gelber Mehrheit das Betreuungsgeld beschlossen. Im Wahlkampf wird die 'Herdprämie' sicher eine Rolle spielen."
Das am 1. August 2013 eingeführte Betreuungsgeldgesetz verstößt nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2015 gegen das Grundgesetz. Der Bund habe nicht die Kompetenz, das Gesetz zu erlassen. Die Regelung sei deshalb verfassungswidrig und nichtig. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) kündigte daraufhin am selben Tag an, das Betreuungsgeld in Bayern als Landesleistung zu erhalten.
* Autor: Dr. Franz-Josef Hücker; -- Quelle: das Akazienblatt Nr. 08.2020, 14. Jg., S. 11.