Fraktur reden
Bei der Redensart "Fraktur mit jemandem reden" (oder schreiben oder sich so verhalten) ist es nicht nur die Botschaft selbst, sondern vor allem die Begleitmusik, das Wie etwas gesagt wird oder Wie der Mensch sich verhält, die den Empfänger der (zumeist unerfreulichen) Botschaft begreifen lässt, welchen Inhalt die Botschaft hat und wie sie zu interpretieren ist. - Und das ist etwas anderes als das verklausulierte und geschminkte Gefasel mancher Zeitgenossen, das oftmals den rechten Sinn vermissen lässt und dem Absender der nebelhaften Botschaft eine Fülle von Rückzugstüren öffnet durch die zahlreichen "So habe ich das aber nun wirklich überhaupt nicht gemeint" oder "Das hast du schon wieder gründlich missverstanden".
Fraktur (fractura = "Bruch") ist eine bekannte Schriftart aus der Gruppe der gebrochenen Schriften, die vom 16. bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts die meistbenutzte Druckschrift im deutschsprachigen Raum war. - Abgelöst wurden dadurch die Antiqua (antiquus = "alt, einstig") oder auch Lateinschriften mit ihren geschwungenen Bögen, die auf dem lateinischen Alphabet basieren und in der römischen Antike verhaftet sind. - Eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit allerdings umkehrte, denn heute ist Antiqua wieder die am häufigsten verwendete Schriftfamilie für die westlichen Sprachen. - Und diese Entwicklung scheint wohl auch das Sprachverhalten der meisten Erwachsenen zu spiegeln oder zu beeinflussen, die Antiqua bevorzugen, Umschreibungen und Euphemismen verwenden, anstatt Fraktur zu reden.
Somit wird die Fraktur (gebrochen, eckig, kantig) mit einem sprachlichen oder nonverbalen Verhalten gleichgesetzt, das für den Empfänger der Botschaft gewiss nicht immer angenehm ist, dafür aber eben auch geradeheraus und klar verständlich. - Bekannt ist die Redensart seit Mitte des 16. Jahrhunderts, als sich die Fraktur durchzusetzen begann. Für die Popularität der Redewendung wird es weiterhin keineswegs unerheblich gewesen sein, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Ausdruck "Fraktur" oder "Fraktur reden" als beliebtes Schlagwort der Sozialdemokraten populär wurde, die allerdings heutzutage ebenso wie andere auch lieber "Antiqua faseln", also wesentlich mehr strategischen Nebel verbreiten als Klartext.
* Autor: Dr. Franz-Josef Hücker; -- Quelle: das Akazienblatt Nr. 08.2009, S. 11.