Im Elfenbeinturm leben, sitzen
Schon in der Bibel, im Alten Testament, wird das Elfenbein verwendet, um die weiblichen Reize nach allen Regeln der damaligen Dichtkunst zu beschreiben. Dabei erweist sich, dass in jener Zeit lange elfenbeinfarbene Hälse als Schönheitsideal galten. In den Worten Salomos im 5. Vers des 7. Kapitels, an dieser Stelle eingebettet in den 4. und 6. Vers, ist zu lesen:
4 Deine beiden Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger Gazellen.
5 Dein Hals ist wie ein Turm von Elfenbein; deine Augen wie die Teiche zu Hesbon am Tore der volkreichen Stadt; deine Nase wie der Libanonturm, der nach Damaskus hinschaut.
6 Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel, und das herabwallende Haar deines Hauptes wie Purpur: ein König ist gefesselt durch deine Locken!
Später verwendet der mittelalterliche Marienkult den Elefantenzahn in der Lauretanischen Litanei für die Beschreibung der Mutter Jesu: Die Jungfrau Maria wurde zum Bollwerk der Standhaftigkeit gegenüber dem Bösen, der als keusch geltende Elefant symbolisierte die Reinheit. Aus dieser Zeit sind zahlreiche aus Elfenbein geschnitzte Aufbewahrungsgefäße für die geweihten Hostien überliefert. An diese positive Bedeutung des Elfenbeinturms knüpften nicht wenige bildhafte Beschreibungen an. So bezeichnete der französische Kritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869) in seinen "Pensées d'août" (August-Gedanken, 1837) den Dichter Alfred Comte de Vigny (1797-1863) als überlegenen Denker im Elfenbeinturm. Von Sainte-Beuve übernahmen andere Schriftsteller, der Italiener Gabriele d'Annunzio, die Engländer Oscar Wilde und Henry James, den hier noch positiv geladenen Elfenbeinturm.
Anders in Deutschland. Dort erschien nach dem Zweiten Weltkrieg der Elfenbeinturm vor allem in der Literaturkritik mit negativer Polung, zunächst vorwurfsvoll gegen eine elitäre Dichtkunst gerichtet. Seit dieser Zeit ist die Redewendung "Im Elfenbeinturm leben oder sitzen" für weltfremde Zeitgenossen populär. Insbesondere die Studenten der 1968er Jahre wussten sie zu nutzen, um ihre Professoren zu kritisieren, die sich dort verschanzten. Die sowohl die Tagespolitik als auch soziale Probleme und Sozialkritik völlig ausblendeten.
Bis in unsere Zeit hinein wird hierzulande die Redensart verwendet, um unnahbare oder hochmütige Einzelgänger, Personen des öffentlichen Lebens, Künstler oder Wissenschaftler, Berufspolitiker zu kritisieren und ins Zwielicht zu rücken. Vor dem Hintergrund, dass in und aus den Elfenbeintürmen bereits vor 1945 viele der hier ins Visier genommenen Personen des öffentlichen Lebens ebenso wie manch andere tatenlos zugesehen haben, wie Kollegen und Kolleginnen verschwanden, vergast und eingeäschert wurden, diskreditiert sich das von dem im Dezember 1942 in Kärnten geborenen Peter Handke zunächst als Aufsatz, später als Buch (1972) mit einer gewissen Arroganz und Selbstherrlichkeit veröffentlichte Bekenntnis "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" als menschenverachtend und anachronistisch.
* Autor: Dr. Franz-Josef Hücker; -- Quelle: das Akazienblatt Nr. 09.2016, S. 11.