Sich etwas aus den Fingern saugen
Fehlen jemand die rechten Worte oder eine zündende Idee oder ein Argument oder eine Möglichkeit, sich in Szene zu setzen, weil es eigentlich gar nichts Neues zu berichten gibt oder weil er nichts vorzuweisen hat, verbleibt ihm immer noch die Möglichkeit, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Umgangssprachlich meint die Redensart "Sich etwas aus den Fingern saugen" somit, sich etwas ausdenken. Dabei muss es sich keineswegs um das bereits Erwähnte handeln. Das können auch Lösungen für aktuelle Lebensprobleme, die Lösung einer technischen Aufgabe oder ähnliches sein. Anders ist es freilich, wenn es um die vermutete Herkunft der Redensart geht. Dort gibt es wirklich Hinweise zuhauf. Dort muss sich also niemand etwas aus den hier angesprochenen sprichwörtlichen Fingern saugen.
So belebte bereits 1512 die aus der Feder des elsässischen Franziskaners Thomas Murner (1475-1537) stammende Satire "Narrenbeschwörung" den bekannten Volksglauben, nach dem das Saugen an einem in Blut oder Zauberflüssigkeit getauchten Finger Weisheit vermittelt oder dass die magischen Kräfte der Finger selbst eine Mitteilungsgabe aufweisen. Auszugsweise ist dort unter anderem im Original zu lesen: "Und ist erdichtet und erlogen / dan ir habts uß den fingern gesogen" (Heinrich Kurz (Hrsg.): Thomas Murner's Gedicht vom großen Lutherischen Narren. Zürich: Meyer und Zeller, 1848: Nr. 2045, S. 71).
Nach einer anderen Deutung wurde die Redensart von Kleinkindern abgeschaut. Da ist beispielsweise der Säugling, der oftmals den Daumen in den Mund nimmt und daran saugt oder nuckelt, weil er diesen für die Brustwarze der Mutter hält, heißt es dort. - Manche schreiben die Redensart auch den Menschen im alten Rom zu. Dort glaubten die Menschen, die Bären würden während des langen Winterschlafs an ihren Pfoten nuckeln und sich etwas Nahrhaftes "aus den Fingern saugen". Später wurde das von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), wohl scherzhaft gemeint, in dem Vers aufgegriffen: "Dichter gleichen Bären / Die immer an eigenen Pfoten zehren", was sich bald zum geflügelten Wort entwickelte.
Und die andere Seite dieser interessanten Redensart ist: Wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen, gibt es die in Sichtweite befindlichen Finger, die nicht allzu selten schon durch die reine Berührung der Lippen das Gesuchte nahezu heraussprudeln lassen und alles wird gut!
* Autor: Dr. Franz-Josef Hücker; -- Quelle: das Akazienblatt Nr. 05.2018, S. 11.