Jemandem auf den Zahn fühlen
Meine Mutter akzeptierte meine Auserwählte, meine Herzensdame, nachdem sie ihr auf den Zahn gefühlt hatte. Dabei ging es jedoch tatsächlich nur um eine Frage, auf die es genau eine richtige Antwort gab: "Ein ordentliches katholisches Mädchen." Anders bei Tante Carla. Die interessierte sich ausschließlich dafür, ob dieses ordentliche katholische Mädchen in einem wohlhabenden Elternhaus aufgewachsen ist. Ob sie auch aus einem guten Stall kommt.
Nun könnte man meinen, dass seien alles olle Kamellen. Aber Pustekuchen! Da kreuze ich doch vor einigen Tagen mit meiner neuen Lebensabschnittsgefährtin in meiner Stammkneipe auf und bemerke zu spät, dass das ein riesengroßer Fehler war. Denn meine so genannten Freunde haben der richtig auf den Zahn gefühlt. Teils unverblümt und frech, teils als Small Talk getarnt. Ich sehe jetzt noch die verzweifelten und rastlosen Blicke meiner Liebsten, die mir sagen wollten: "Nun tue doch endlich etwas!" Aber wie sollte ich das machen, ich armer Tropf? Schließlich war ich auch geschockt. Die McCarthy-Ära war nichts dagegen. Das war Inquisition auf hohem Niveau. Meine Mutter und meine Tante hätten es nicht besser machen können. Mag sein, dass das alles ein Missverständnis von "Jemandem auf den Zahn fühlen" gewesen ist, vielleicht aber auch gerade nicht. Handelt es sich dabei doch um eine dieser Redensarten, die ihrer Herkunft nach etwas äußerst Praktisches zum Ausdruck bringen, um nicht zu sagen, etwas im Verborgenen schlummerndes ans grelle Tageslicht bringen.
Der Rosshändler und der Tierarzt bestimmten nämlich durch einen Griff ins Maul des Pferdes anhand seiner Zähne sein wahres Alter und seinen Wert als Arbeitstier. Die kannten sich in der Tat wirklich richtig gut damit aus. Das waren richtige Experten auf ihrem Gebiet. Ebenso die Zahnärzte früherer Generationen. Die klopften mit ihren Fingern auf die Zähne ihrer Kundschaft und erkannten am Aufschrei des Patienten den kariösen Zahn.
* Autor: Dr. Franz-Josef Hücker; -- Quelle: das Akazienblatt Nr. 25.2008, S. 11.